Die Geschichte der Rotenburger Werke spiegelt exemplarisch die Entwicklung der Behindertenhilfe in Deutschland seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wider. Eine Geschichte mit Höhen und Tiefen. Bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts kommt es zu rasanten und teilweise sehr fortschrittlichen Entwicklungen in der Behindertenarbeit. Dann folgt der Schock der Nazi-Herrschaft, deren Bestrebungen zur "Vernichtung lebensunwerten Lebens" zum Mord an 200.000 Menschen mit Behinderung führen.
Allein 562 Frauen und Männer aus den Rotenburger Werken, die damals Rotenburger Anstalten hießen, werden deportiert und Opfer dieser systematischen Tötungen.
In der Nachkriegszeit dauert es Jahrzehnte, bis die Rückschläge der NS-Diktatur auch im Denken über Menschen mit Behinderung überwunden sind. Seit den 60er und 70er Jahren entsteht eine Auffassung, die den Menschen über seine Persönlichkeit und seine Fähigkeiten definiert, nicht über seine Defizite. Ein Prozess, der in unserer Gesellschaft noch nicht in allen Bereichen zu einem gleichberechtigten und partnerschaftlichen Umgang mit Menschen mit Behinderung geführt hat. Wir versuchen, den Weg zu diesen Zielen weiter zu ebnen. Dennoch darf nicht unerwähnt bleiben, dass es in der Nachkriegszeit auch Medikamenten-Missbräuche, Gewalt und sexuelle Übergriffe gegeben hat, die in den Rotenburger Werken gründlich aufgearbeitet und publiziert wurden.
„Nur wer die Vergangenheit nicht aus den Augen verliert, kann die Zukunft verantwortlich gestalten“, sagt Pastorin Jutta Wendland-Park, ehemalige Geschäftsführerin der Rotenburger Werke. Seit fast 30 Jahren stellt sich die Einrichtung der Aufarbeitung ihrer Geschichte.
Bereits ab 1990 hatten die Rotenburger Werke (früher Rotenburger Anstalten) ihre Geschichte während der NS-Diktatur aufgearbeitet und publiziert. Die Dokumentation "Zuflucht unter dem Schatten Deiner Flügel" können Sie bei uns bestellen. Einen ca. einstündigen Film aus dem Jahr 1990 über das Schicksal eines Bewohners der damaligen Rotenburger Anstalten während der NS-Zeit können Sie hier abrufen.
Seit 2008 schrieb ein Arbeitskreis in Zusammenarbeit mit Historikern ein Geschichtsbuch über die Zeit von 1945 bis zum Jahr 2000. Wissenschaftlich begleitet wurde das Team von Prof. Dr. Manfred Heinemann, Historiker an der Universität Hannover, dem Historiker und Sachbuchautor Dr. Harald Jenner (Berlin) und dem Sachbuchautor Dr. Raimond Reiter (Hannover).
Bei den Recherchen und Berichten von Zeitzeugen stellte sich immer wieder heraus, dass die Anwendung von Zwang und Gewalt im Umgang mit Menschen mit Behinderung nicht nur in Einzelfällen auftrat.
Diese beschämende Tatsache veranlasste den damaligen Vorstand der Rotenburger Werke und den Arbeitskreis, die Phänomene von struktureller und vorsätzlicher Gewalt eingehender im Rahmen einer Tagung in Jahr 2013 zu untersuchen und eine zusätzliche, eigenständige Veröffentlichung in Form eines Tagungsberichts zur Verfügung zu stellen.
In Folge der Erkenntnisse aus den ersten Untersuchungen wurde in einer wissenschaftlichen Studie die Situation von Heimbewohner*innen der damaligen Rotenburger Anstalten in der Zeit von 1945 bis 1975 von den Historikern Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl, Dr. Karsten Wilke (beide Bielefeld), der Politologin Dr. Ulrike Winkler (Trier) und der Doktorandin Sylvia Wagner (Krefeld) untersucht. Das viel beachtete Buch “Hinter dem Grünen Tor” erschien 2018 und erfuhr seitdem seine dritte Auflage.
Einen ausgezeichneten Überblick über die Geschichte der Rotenburger Diakonie und deren Rolle im Nationalsozialismus bietet die Webseite des Diakonissen-Mutterhauses.
Während der geschichtlichen Bearbeitung ist deutlich geworden, dass es für die Aufarbeitung der persönlichen Vergangenheit sehr hilfreich sein kann, seine eigene Geschichte erzählen zu können.
Die Rotenburger Werke möchten dazu ausdrücklich ermutigen – unabhängig davon, ob das Gesagte hinterher für eine Veröffentlichung verwendet werden darf.
Neben Ansprechpartnern in der Einrichtung (Geschäftsführung, Seelsorge, Psychologischer Dienst) hat sich die Evangelische Lebensberatungsstelle Rotenburg bereit erklärt, eine erste Anlaufstelle für Menschen zu sein, die über ihre Erfahrungen in den Rotenburger Werken berichten möchten. Das Angebot richtet sich ausdrücklich sowohl an Bewohner*innen als auch an Mitarbeitende. Alle Gespräche unterliegen absoluter Verschwiegenheit. Ihre Ansprechpartnerin in der Lebensberatungsstelle ist Birgit von Hennigs. Sie ist Diplom-Sozialpädagogin, Heilpraktikerin für Psychotherapie und Psychologische Beraterin.
Unter Telefon 04261- 6303960 steht sie montags bis donnerstags von 9 bis 12 und von 14 bis 17 Uhr, freitags von 9 bis 12 Uhr für Anfragen zur Verfügung. Email: lebensberatung.rotenburg@evlka.de
Die Mitarbeitenden der Beratungsstelle können selbst Gespräche führen, aber sie vermitteln auch weiter an einen internen oder externen Gesprächspartner – je nachdem, wie es gewünscht wird.
Von 1877 bis heute: Sehen Sie hier die wichtigsten historischen Daten in tabellarischer Form.